Heute möchte ich Ihnen einen Text nahebringen, den meine Tochter Sophia geschrieben hat. Sie ist eine Reisende.
“Barfuß in Indien”
Beschuht verlasse ich den internationalen Flughafen in Delhi. Ein ungewöhnlicher Anblick für jeden der mich kennt, seit zwei Jahren sind meine Füße nur bekleidet wenn die Umstände es nicht anders zulassen. Und warum jetzt? Die Angst vor dem Unbekannten – in Indien barfuß gehen? Das geht doch nicht, zu viel Dreck, und was ist mit der Kultur? Vielleicht bin ich damit respektlos… Diese Stimmen wandeln durch meinen Kopf, meine Füße schmerzen von der ungewohnten Enge.
Mit dem Bus durch Delhi und mein linker Fuß fängt an zu krampfen. Genug, denke ich mir. Mich starrt hier sowieso schon jeder an. Ich erhöre die Hilferufe meiner Füße und befreie sie. Es ist Regenzeit und der Monsun versucht die Welt zu ertränken, im Bus steht das Wasser knöchelhoch. Kein Problem für mich, Füße trocknen schneller als Schuhe.
Das war der Beginn, nicht meiner ersten und vermutlich nicht der letzten Reise, die ich mit dem Vorsatz, nun doch endlich Schuhe zu tragen, begonnen habe. Und wie so oft vaporisierte sich dieser Vorsatz über kurz oder lang ins Nichts. Von nun an wandle ich barfuß durch Indien.
Von Delhis Innenstadt über (nach Warnung meines Gurus) von wilden Tieren bevölkerte Flusspfade, über Granatapfel-Plantagen, in Zügen und an Bushaltestellen, auf ein Hausboot, in ein buddhistisches Kloster und letztlich weit hinauf in den Himalaya, und ja, auch auf öffentliche Toiletten. Ich werde vehement dazu aufgefordert mir Schuhe zu kaufen, es wird mir wiederholt angeboten mir Schuhe zu kaufen, mir werden Schuhe geliehen… Und immer die gleichen Fragen. Ja, manchmal tut es weh, barfuß zu gehen. Ich habe mir (wenn auch wenn selten) Dinge in die Füße getreten, hatte Entzündungen, habe meinen kleinen Zehennagel in einem Nationalpark in Ecuador gelassen, kann manche Strecken nicht gehen, wenn der Boden zu heiß ist und von Zeit zu Zeit muss improvisiert werden (zum Beispiel mehrere Kilometer auf Bahngleisen zu balancieren, weil der Boden einfach unbegehbar ist…). Ja, manchmal ist es kalt. Auf 4000 Meter in den Himalayas zum Beispiel. Aber schwitzende Füße sind auch kein Spaß.
Und die Hygiene… Dazu kann ich nichts sagen. In meiner persönlichen Wahrnehmung ist es nicht unhygienisch was ich tue, meine Füße stimmen mit mir überein und haben sich noch nie eine durch mangelnde Hygiene ausgelöste Krankheit geholt. Also wozu das alles?
Barfusgehen stärkt das Bewusstsein für den Moment. Während wir essen und gleichzeitig Fernsehen, planen wir schon den morgigen Tag. Während wir von der Arbeit aufbrechen sind wir schon beim Mittagessen, während wir zu Mittag essen sind wir schon wieder bei der Arbeit. Wenn du barfuß gehst, lassen es deine Füße nicht zu, etwas anderes zu tun. Deine Aufmerksamkeit ist im Hier und Jetzt, du spürst was unter deinen Füßen passiert und wie sich jeder Schritt auf deinen Körper auswirkt, du richtest deinen Blick nach vorne, suchst bedächtig aus wohin du deinen Fuß setzen willst. Gehen wird zur Meditation.
Barfusgehen entschleunigt. Unsere Welt wird immer schneller. Effizienz, nicht Leidenschaft und Genuss bestimmen, was wir tun. Wir planen den Tag vom Aufwachen bis zum Einschlafen durch und Wege die zu Fuß zurück gelegt werden, werden schnell zurück gelegt. Gehst du barfuß, merkst du ,dass deine Füße viel mehr Spaß daran haben, langsam und liebevoll aufgesetzt zu werden. Du lernst dir Zeit zu nehmen, auf die Stimme deines Körpers zu hören und auf dein Gefühl zu vertrauen.
Barfussgehen verbindet. Wir sind nicht auf dieser Welt um unser Leben lang zu arbeiten und Geld zu verdienen. Nicht um Besitz anzuhäufen oder um unser Auto mit dem des Nachbarn zu vergleichen. Doch tuen wir genau diese Dinge, obwohl der Wenigste, wirkliches und wahrhaftiges Glück dabei verspürt, sich ein neues Smartphone zu kaufen, obwohl der Wenigste mit Genuss und Leidenschaft durch sein Arbeitsleben geht. Wir sorgen uns um die Zukunft, wir bereuen die Vergangenheit und wir machen unser Glück davon abhängig wie gut wir im Gegensatz zu anderen dastehen. Wir haben vergessen, dass wir ein Teil der Natur sind, dass das Leben gelebt werden will und das der Weg zu einem gelebten Leben eines unserer ureigenen Gefühle ist. Gehst du einmal barfuß in den Wald, hörst du auf, die Natur nur von außen zu betrachten. Du spürst die Erde, die Wurzeln, die getrockneten Blätter, die Tannennadeln und du spürst dich selbst unabgeschnitten von dem, was um dich herum ist. Du spürst das Leben, die Natürlichkeit von Wachstum und Vergänglichkeit direkt an deinen Fußsohlen. Du spürst dich selbst als Teil davon.
Und die Verletzungen die ich mir zugezogen habe? Sie kamen aus den Momenten, in denen ich vergessen habe bewusst im Hier und Jetzt zu sein, aus den Momenten in denen ich doch schnell irgendwohin wollte, aus den Momenten in denen ich mir keine Zeit nahm auf meinen Körper zu hören.
Ich will niemandem sagen Schuhe aus seinem Leben zu verbannen. Doch es ist eine einfache Übung sie, hin und wieder, zuhause zu lassen oder für einen kurzen oder langen Weg auszuziehen. Damit schenken wir uns Momente der Bewusstheit, Langsamkeit und Verbundenheit, die sich wunderbar in das alltägliche beschuhte Leben tragen lassen.